Dem Abmagerungswahn entkommen


Anorexia nervosa – Magersucht – ist eine ernste, seelisch bedingte Essstörung. Angehörige der so genannten “Pro-Ana”-Szene wollen immer weiter abnehmen und treffen sich mit anderen Magersüchtigen im Internet in speziellen Foren, um sich gegenseitig dazu anzuspornen. Die 20-jährige Sarah Heitzler war selbst für etwa ein halbes Jahr Teil dieser Gruppe, bis ihr der Ausstieg gelang und sie ein Recovery-Forum gründete (recovery = englisch für Genesung, Rückgewinnung). Darin helfen sich ehemalige Pro-Ana-Anhänger gegenseitig. Im Gespräch mit medienbewusst.de erzählt sie von ihrer Zeit mit “Ana”, wie sie heute lebt und was ihr Forum damit zu tun hat.

In welchem Alter bist Du an der Essstörung erkrankt? Gab es dafür einen bestimmten Auslöser?

Ich bin mit etwa 14 Jahren an der Krankheit erkrankt. Begleitet von Depressionen. Es hat alles damit angefangen, dass ich mich für Jungs interessiert habe. Und so machte ich mir immer mehr und mehr Gedanken um mein Aussehen. Mit jeder Abfuhr wuchs mein Unbehagen. Irgendwann kam ich zu dem Entschluss, einfach zu fett zu sein. Der ausschlaggebende Punkt für meine erste „Diät“ war der Gang auf die Waage, nach jahrelangem Nicht-Wiegen stieg ich drauf und war geschockt. Ich führte fortan Krieg gegen sie.

Wie siehst du dein damaliges Gewicht jetzt – war es wirklich zu hoch oder war dein Body-Mass-Index eigentlich okay?

Nein, es war perfekt. Es war fünf Kilo unter meinem jetzigen. Ich war damals schon eher dünn. Wenn ich heute darauf zurückblicke, dann denke ich mir, dass ich wirklich verrückt gewesen sein muss!

Wie fühlst Du dich momentan?

Naja, das kann ich nach wie vor immer noch nicht so genau sagen. Ich lebe in meinem Körper, meist kann ich ihn akzeptieren. Mögen ist auch nach fast drei Jahren Therapie schwer.

Wann hast Du dich zum Ausstieg entschlossen?

Vor drei Jahren. Als ich immer wieder kurz vor dem Selbstmord stand, als ich bildhafte Visionen davon hatte. Da habe ich gemerkt, dass nicht nur ich, sondern auch meine Familie daran kaputt ging. Und da habe ich mich zur Therapie entschlossen.

Wie hat deine Familie diese Gedanken mitbekommen?

Gar nicht. Ich habe nicht mit ihnen darüber gesprochen, wollte sie damit nicht belasten. Ich war halt besonders still, habe mich nur noch zurückgezogen. Besonders meine Mutter hat darunter gelitten. Sie hat sich immer gewünscht, ein gutes Verhältnis zu haben. Aber ich habe immer abgeblockt, weil ich Angst hatte, sie würde in mich hineinsehen können und mich für einen dummen, schlechten Menschen halten. Einmal hat sie aus Versehen einen Abschiedsbrief gefunden. Ich kam heim und sie saß weinend am Tisch. Auch mein Vater war total aufgelöst. Ich hab es aber heruntergespielt. Gesagt, das sei nur ein fiktiver Text, würde nicht mich selbst betreffen.

Vor Jahren hast Du mit einer Therapie begonnen. Wie lief das ganze ab? Warst Du in einer speziellen Klinik?

Nein, ich war nie in einer Klinik. Dafür habe ich mich nie für dünn genug empfunden und auch irgendwie nie krank genug. Ich habe immer gedacht, dass jemand anderes den Klinikplatz nötiger hat. Außerdem wollte ich immer lernen, direkt in meiner Umgebung mit den Problemen fertig zu werden und dafür bietet sich eine ambulante Therapie besser an. Anfangs war ich einmal pro Woche in der Praxis, jetzt liegen auch mal drei Wochen Pause dazwischen.

Wie kann man sich eine solche Sitzung vorstellen? Worüber wird da speziell geredet?

Eigentlich ergibt sich das meist spontan. Man geht hin und dann wird erstmal gefragt, wie die letzte Woche so lief, was passiert ist. Und dann plappert man drauf los und irgendwann kommt man dann auf eine Verhaltensweise oder ein Thema, das beide interessiert und vielleicht auch irgendwie mit der Vergangenheit zusammenhängt. Daran arbeitet man dann.

Wie bist Du auf die Idee mit dem Recovery-Forum gekommen?

Das war eine spontane Idee. Ich fand ja damals Pro-Ana-Foren genau deshalb gut, weil man endlich mal aus seinem Schneckenhaus heraus kommen und über alles reden konnte. Da hab ich mir gedacht, was in die eine Richtung funktioniert muss auch in die andere. So beschloss ich einen Ort zu schaffen in dem sich Menschen gegenseitig ermuntern, dem Teufelskreis zu entkommen.

Hat es dir persönlich geholfen, rauszukommen?

Ich war damals schon etwa ein halbes Jahr in Therapie, hatte also schon den ersten Schritt gemacht. Ich wollte auch anderen den Mut geben, diesen Schritt zu tun. Sich Hilfe zu suchen. Zu der Zeit was ich in einem With-Ana-Forum, das heißt, dass man nicht versucht sich noch weiter runter zu hungern aber mit der Essstörung leben will. Die Mädels dort waren alle lieb und schlussendlich sind wir dann alle in mein neues Forum umgezogen, weil sich alle entschlossen haben, gemeinsam zu kämpfen.

Wie oft bist Du im Recovery-Forum?

Jeden Tag, außer wenn ich in der Berufsschule bin. Im Wohnheim fühle ich mich oft beobachtet im kleinen Computerraum mit so viel anderen. Ich will ja meine Privatsphäre und die meiner Mädels schützen.

Wie groß ist die Resonanz fürs Forum? Habt ihr viele Neuanmeldungen?

Es ist unterschiedlich. Manchmal kommen drei auf einmal, mal wochenlang gar keine. Je nachdem auch wie viel Werbung wir gemacht haben. Aber ich will, dass es immer so familiär und vertraut bleibt wie genau jetzt.

Haben denn alle so einen Blick für ihr Gewicht? Oder gibt es auch wieder Rückfälle?

Es gibt sogar sehr oft Rückfälle. Aber jeder einzelne macht uns stärker, jeder einzelne deckt Themen auf, die man noch nicht verarbeitet hat und dann aber damit anfangen kann. Jeder Rückfall ist auch eine neue Chance, noch tiefer in sich hineinzublicken und sich ein Stück weit mehr zu heilen. Und zusammen geht das viel besser als alleine!

Wie stehst du heute zu Pro-Ana-Foren?

Ich finde sie ok, wenn man denkt, man bräuchte sie. Jedoch sollte man sich die ganzen Diättipps und „thinspos“ verbieten. „Thinspos“ sind Bilder von dünnen Mädchen, die die Pro-Anas benutzen, um sich dazu anzuspornen, nichts zu essen. Sie wollen genauso dünne Beine, dünne Bäuche usw. haben. Das kommt von Inspiration und thin (engl. dünn). Es ist okay, wenn sich Essgestörte austauschen, das tut ihnen oft sogar gut. Aber nicht auf einer Ebene, auf der man sich gegenseitig lobt, wenn wieder ein Kilo abgehungert wurde.

Was rätst du Leuten, die aussteigen möchten?

Sich auf jeden Fall professionelle Hilfe zu suchen! Jemand, der diese Krankheit hat, der hat ein tiefes Trauma erlebt oder sonst was und das kann man nicht alleine verarbeiten…anders wird man es niemals los!

Was sollte man auf gar keinen Fall tun?

Sich zu Hause einschließen und alleine mit seinen dunklen Gedanken bleiben.

medienbewusst.de bedankt sich bei Sarah Heitzler für das Interview und wünscht ihr und den anderen Mitgliedern des Recovery-Forums alles Gute für die Zukunft.

Christine Döllner

Anm. d. Red.: Das Recovery-Forum ist nach Wunsch von Sarah Heitzler absichtlich nicht im Artikel verlinkt.

Bildquelle:
privat