Solitaire mit Freunden


Grausige Gymnastikübungen, erzwungener Musikunterricht und unangenehme Altersgenossen – die Tücken der Kinderjahre und der Pubertät lauern auch auf die Generation Handy. Wie mag sie wohl damit umgehen? Vielleicht sucht sie sich wie Jahrgänge vor ihr Alternativbeschäftigungen. Zum Beispiel eine Runde Solitaire, wo doch das Mobiltelefon Spielfeld und Steine überflüssig macht. Wie aber kann man sich die heranwachsenden Handykids vorstellen? medienbewusst.de-Reporter Yves Naber hat eine Vermutung.

Eisiger Wind bläst ihm ins Gesicht. Simon strahlt. Ein schwarzer Sportbeutel liegt ausdruckslos auf seinem Schoß. Die beiden haben es sich auf einer grauen Sitzbank im herbstlich anmutenden Schweriner Stadtpark gemütlich gemacht. Es ist Montagmittag. Früher waren Montagmittage ein Graus für Simon. Scham, Schweiß und schlechte Laune – Schulsport!

In der linken Hand hält er ein Softeis. Turnen, Schwimmen, Volleyball – nein, das ist nun wirklich nichts für ihn. Allein bei der Vorstellung überkommt ihn ein unangenehmes Schaudern. Doch er blickt nach vorne. Vor zwei Wochen ist Simons sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen: Seine Mutter hat ihm zum 9. Geburtstag ein Handy geschenkt. Stolz greift er in die rechte Tasche seines grauen Anoraks. Fest, aber liebevoll, fast zärtlich umschließt er das zierliche Wunderwerk der Zivilisation mit seiner Hand.

Während seine Klassenkameraden wie vom wilden Waldaffen gebissen durch die Sporthalle rennen, dabei känguruartig über Kästen springen, sich unter Stangen durchschlängeln und mit der Kraft kirgisischer Braunbären Medizinbälle gegen die Wände wuchten, hält Simon mit seinen Kräften Haus. Langsam und bedächtig führt er seinen kleinen Freund aus der Dunkelheit der Anoraktasche hinaus ans Licht. Fasziniert betrachtet er den bunten, freudespendenden Bildschirm. Er hat das Handy schon mehr als lieb gewonnen. Sollen die anderen doch schwitzen, Simon leckt genüsslich an seinem Eis und startet Solitaire. Geschmeidig umspielt sein Daumen die kalten Tasten. Verletzende Blicke, boshafte Bemerkungen, fliegende Fäuste – alles Vergangenheit. Gewonnen! Auch diese Runde Solitaire nimmt ein glückliches Ende. Simons Blick wandert für einen kurzen Augenblick zurück in die Wirklichkeit. Auf der Wiese gegenüber spielen zwei Jugendliche Fußball. Simon startet den Fußball-Manager. Tor! Hackentrick, Doppelpass, Fallrückzieher – das sollen ihm die beiden dort erst einmal nachmachen.

Was es später wohl zu essen gibt? Seine Mutter kocht gerne. Gut. Und in großen Mengen. Morgen ist Dienstag. Früher waren Dienstage ein Graus für Simon. Flötenstunde, gefolgt vom Klavierunterricht. Nein, das ist nun wirklich nichts für ihn. Dafür bedecken nunmehr schwarze Kopfhörer Simons Ohren.

Unglaublich, welche Ausmaße die digitale Musiksammlung eines Neunjährigen innerhalb von wenigen Tagen annehmen kann. Zufrieden wiegt er den Kopf hin und her. Seine Augen sind fest verschlossen. Wie das neue Album der Gruppe Rammstein den Weg in sein Handy gefunden hat, weiß Simon nicht. Er weiß nur, dass auf Dienstag ein Mittwoch folgt. Mittwochs besucht Simon seinen Vater. Besuche sind anstrengend. Der Vater lebt weit entfernt. Reicht diese Woche eine SMS oder gar ein kurzes Telefonat? Simon grübelt. Unaufgeregt durchsucht er sein Handy nach einem bestimmten Programm. Ein Vater-und-Sohn-Spiel, das muss es doch geben! Er wird nicht fündig. Simon beschließt, einen Freund um Rat zu fragen.

Der Blick ins Adressbuch verrät ihm, dass er keinen Freund hat. Dafür erscheint auf dem Bildschirm ein neues, buntes Logo. Es lächelt.

Yves Naber

Bildquelle:
Foto: Marius Lohmann