Der neueste Trend unter Jugendlichen schwappt nicht wie gewohnt über den Ozean zu uns nach Deutschland, sondern kommt in diesem Fall aus Russland. Die Rede ist von Chatroulette, einem Videochatportal das den Nutzern beliebig andere Nutzer zuordnet. Hierbei ist es nicht möglich eine bestimmte Person zu suchen um sich mit dieser zu unterhalten. So entscheidet allein der Zufall an welchen Menschen, mit welchen Absichten man gerät – und das ist für Kinder und Jugendliche selten geeignet.
Andrej Ternowskij soll der Programmierer aus Moskau heißen, 17 Jahre alt sein und noch zur Schule gehen. So zumindest heißt es im Netz. Alle großen Zeitungen und Zeitschriften haben bereits berichtet – Stern, TAZ, Die Zeit. Der Spiegel hat Anfang März sogar ein Interview mit dem Gymnasiasten veröffentlicht. Auf chatroulette.com selbst gibt es keine Angaben zum Betreiber. Die Website ist insgesamt sehr minimalistisch in grau, weiß und schwarz gehalten. Auf der linken Seite sind zwei „Bildschirme“ zu sehen. Im unteren erscheint gegebenenfalls das eigene Bild, im oberen der Chatpartner. Auf der rechten Seite ist Platz für den Dialog. Oben sind verschiedene Buttons aneinandergereiht mit „New Game“, „Next“ und „Stop“ lässt sich der Chatvorgang navigieren.
Kommt man auf die Seite wird man zunächst nach dem Zugriff auf Webcam und Mikrofon gefragt. Sollte man diese beiden Komponenten nicht besitzen ist das Chatten mit Chatroulette nicht möglich. Bei der Anfrage ergeht gleichzeitig die Warnung, dass der Benutzer evtl. aufgezeichnet werden könnte. Diese Warnung sollte ernst genommen werden, denn auf dem Videoportal youtube.de finden sich schon jetzt massenhaft Videos in denen Gespräche von Chatroulette-Usern angeschaut werden können. Auf diese Weise könnte jeder, ohne es zu wissen, dauerhaft im Internet zu sehen sein.
Der Selbstversuch von medienbewusst.de beginnt an einem Samstagabend, 19.40 Uhr. Ich gebe meine Kamera und mein Mikrofon frei, mal sehen was mich erwartet. Das erste „Gespräch“ ist kurz. Ich sehe zwei Jungs, schätzungsweise 16 bis 18 Jahre alt. Sie kommen aus Polen schreiben sie in das Feld auf der rechten Seite. Ein bisschen Smalltalk auf Englisch, sonst haben wir uns nichts zu sagen. Der Nächste bitte.
Wieder ein Mann, Murat ist sein Name. Als erstes fällt mir nicht der Mann selbst auf sondern die in Reih und Glied aufgehängten Gewehre und Pistolen an der Wand hinter ihm. Er selbst sitzt auf der rechten Seite im Bild, damit man seinen Besitz gut sehen kann. Sofort herrscht eine seltsame Stimmung, ich bin etwas befangen. Er kann ein paar Worte deutsch: „Bitte“, „Danke“, „Bier schmeckt gut“. Ich schätze ihn auf 50 bis 55 Jahre. Wir unterhalten uns mit Händen und Füßen, er kann kein Englisch. Er ist nett und lacht viel, trotzdem macht ihn die Waffensammlung im Hintergrund zu einem skurrilen Menschen. Ich drücke „Next“.
Mein Gegenüber ist abermals männlich. Alban ist der Name des Studenten aus dem Kosovo. Er freut sich jemanden aus Deutschland erwischt zu haben. In seiner Heimatstadt sind deutsche Soldaten stationiert, mit denen die Einheimischen gemeinsam Bier trinken. Anfangs unterhalten wir uns über das Studium, dann erzählt er von seiner kranken Mutter und das er neben der Uni noch zwei Jobs hat um Miete und Lebensunterhalt für zwei Personen zu verdienen. Viel Persönliches für eine wildfremde Person. Nun möchte er meine Kontaktdaten, ob ich Skype oder Messenger benutze. Das wird mir dann doch zu persönlich, „Next“.
Eigentlich ganz nett, dieses Chatroulette. Die vielbeschriebenen nackten Tatsachen blieben mir bisher jedenfalls erspart. An der Tageszeit liegt es wahrscheinlich nicht, immerhin trifft sich zu der Uhrzeit hier die ganze Welt. Vielleicht leistet das angekündigte Meldesystem seine Arbeit. Nutzer, die von anderen dreimal gemeldet wurden, werden für Chatroulette gesperrt. In den Regeln heißt es, dass obszöne, aggressive und sexuelle Äußerungen im Live-Chat verboten sind. Wer dagegen verstößt, wird von Chatroulette ausgeschlossen. Außerdem müssen die Teilnehmer älter als 16 Jahre sein.
Mein vierter Chatpartner ist, wie sollte es anders sein, ein Junge. Der 18-jährige Australier ist gerade mit der Schule fertig und hat jede Menge Freizeit. Er absolviert zurzeit einen Computerkurs, den er als Vorbereitung auf seinen späteren Beruf nutzt. Die restliche Zeit verbringt er vor dem PC beim „World of Warcraft“ spielen oder im Chatroulette. Ihn interessiert wie das Wetter bei uns so ist und ob in Deutschland die Zigarettenpreise auch so hoch seien wie in Australien. Seit ein paar Wochen wäre die Steigerung um 25 Prozent wirksam. Irgendwann gerät die Unterhaltung ins Stocken und ich klicke ihn weg.
Nun geht es rund. Wovon ich bisher verschont geblieben bin, sucht sich nun den Weg auf meinen Bildschirm. Die nächsten zehn Partner haben ihre Kamera entweder gegen die Wand oder auf ihr bestes Stück gerichtet. Weiterdrücken fällt bei diesem Anblick nicht schwer. Solche Bilder sind nicht für Minderjährige geeignet. Und da auch Erwachsene nicht vorher wissen können, ob sie mit einem Exhibitionisten verbunden werden oder nicht, fehlt es an dieser Stelle eindeutig an Kontrolle von Seiten der Betreiber.
Mein letzter Chatpartner kommt aus Paris. Er ist 35 bis 40 Jahre alt und hat eine Schwester, die in Frankfurt lebt. Hinter ihm auf dem Regal liegen verschiedene Rollen mit Kabeln, scheinbar ein Computerladen. Er ist kurz angebunden, sein Chef hätte ihn gerufen. Er muss weg. Ich auch. „Stop!”
Fazit: Nach über eineinhalb Stunden habe ich viele Jungen oder Männer aus unterschiedlichen Blickwinkeln gesehen, Frauen sind eindeutig in der Unterzahl. Würden sich die Teilnehmer an die Regeln halten und das Portal nicht für sexuelle Befriedigung nutzen wäre es ein toller Ort um sich mit Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern und Kulturen auszutauschen. Vor allem Kinder und Jugendliche müssen vor Menschen mit sexuellen Absichten geschützt werden. Hierfür ist die Einführung eines Kontrollorgans wünschenswert.
Als großer Vorteil ist die Förderung der eigenen Englischkenntnisse zu nennen, was sich für Jugendliche sicherlich als unterhaltsamer Weg etablieren könnte. Da die Teilnehmer aus der ganzen Welt kommen ist Englisch als Weltsprache der einzige Weg um mit dem gegenüber zu kommunizieren ohne auf Hände und Füße zurückgreifen zu müssen.
Christine Döllner
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