Claudia Boysen – “Das Nicht-Funktionierende ist in der heutigen Gesellschaft nichts mehr wert.”


Jedes Jahr werden in Erfurt die Projekte der Akademie für Kindermedien in den Bereichen Spielfilm, Animationsserie und Kinderbuch vorgestellt. Die Akademie fördert und berät Autoren bei ihrer Arbeit an Projekten für ein junges Publikum. medienbewusst.de nahm an dieser Veranstaltung teil und sprach mit der Drehbuchautorin Claudia Boysen über ihr Filmkonzept „Ein bisschen mehr“ für Kinder von 7 bis 11 Jahren. Dieser Film ist ein spannendes und humorvolles Abenteuer über eine ganz besondere Freundschaft zwischen der 9-jährigen Charlie und Simmi, der das Down-Syndrom hat. Die Freundschaft der beiden wird auf eine harte Probe gestellt als er neu in Charlies Klasse kommt.

Liebe Frau Boysen, wie wurden Sie Drehbuchautorin und warum schreiben Sie ausgerechnet Kinderfilme?

Ich hab mit der Schauspielerei angefangen, aber mit der Zeit festgestellt, dass ich mich hinter der Kamera wohler fühle. Dazu kam meine Liebe, Figuren zu entwickeln, was sich auf die Schreiberei übertragen hat. Und meine Figuren liegen mir sehr am Herzen. Außerdem hab ich als Drehbuch-autorin die Möglichkeit, ein ganz neues Universum zu erschaffen. Kinderfilme schreibe ich, weil Kinder das Fantastische noch leichter akzeptieren, als Erwachsene. Kinder sind zwar in ihrem Geschmack ein bisschen gnadenlos, denn sie orientieren sich in der Regel am Mainstream. Aber genau aus diesem Grund sind gute Kinderfilme, die Unterhaltung mit Anspruch verbinden so wichtig.

Was sollte man besonders beachten, wenn man ein Drehbuch für Kinder schreibt?

Ich möchte gerne spannende Geschichten schreiben: Kinder wollen Abenteuer, sie wollen gerne die Helden sein, sie wollen gerne Dinge verändern und zupacken können. Und dies sind jene Aspekte, die ich spannend, aufregend und liebenswert finde und die das Schreiben auch ungeheuer vielseitig machen. Meiner Meinung nach sind Kinder ein viel gnadenloseres Publikum als die Erwachsenen. Gleichzeitig sind Sie aber auch dankbar, wenn ihnen etwas gefällt.

Was bereitet Ihnen besonderen Spaß an der Entwicklung eines Drehbuchs?

Ich empfinde das Schreiben als sehr vielseitig, weil ich mich einerseits mit dem Stoff auseinandersetze und dazu auch noch mit der Entwicklung eines Kindes. Zum Beispiel: Wann versteht ein Kind, was es tut? Wann kann ich ein Kind und wann sollte ich ein Kind mit gewissen Dingen kon-#frontieren? Wie bringe ich ein Kind zum Nachdenken? Darum geht es ja auch in meinem Film “Ein bisschen mehr”. Da ich auch Kurzfilme mit Kindern und für Kinder mache, weiß ich, dass gerade in der Altersstufe zwischen neun und zehn Jahren eine ganz starke Phase des Mobbings beginnt, des gegenseitigen Ausgrenzens. Kinder wollen möglichst so sein wie alle anderen auch. Mir geht es in meinem Film darum, eine spannende Geschichte zu erzählen, aber gleichzeitig Kinder zum Nachdenken anzuregen. Es soll eine kleine Tür geöffnet werden für eine etwas größere Akzeptanz im Umgang mit behinderten Menschen, aber auch im Umgang mit Menschen, die nicht ganz in unser Denkschema passen.

In Ihrem Film “Ein bisschen mehr” geht es um den Jungen Simmi, der das Down-Syndrom hat. Wie sind Sie speziell zu dem Thema “Kinder und Behinderungen” gekommen? Gibt es einen persönlichen Bezug?

Interessanterweise fing alles an, als ich Filzpuppen auf einem Weihnachtsmarkt gekauft habe, die von geistig behinderten Menschen gefertigt wurden. Ich war begeistert und erstaunt, was für künstlerische Fähigkeiten Menschen mit geistiger Behinderung haben und welch schöne Dinge sie erschaffen können. Wenn man sich dem Thema auf solch einem Weg nähert, bekommt man ein ganz anderes Menschenbild. Ich überlegte, warum wir in der Gesellschaft oft so einseitig an unserem finanziellenm Status gemessen werden. Warum wird der Gabe, andere Leute zum Lachen zu bringen oder einfühlsam zu sein so wenig Wert beigemessen? Wir leben in einer Gesellschaft, in der diejenigen, die nicht im herkömmlichen Sinne Werte schaffen, nichts wert sind. Das Zerbrechliche und das Nicht-Funktionierende ist in der heutigen Gesellschaft nichts mehr wert. Und es ist wichtig, dagegen zu kämpfen und diesem Wandlungsprozess entgegenzuwirken. Deswegen stehe ich so leidenschaftlich für meine Geschichte. Geschichten prägen uns, bewusst und unbewusst.

Wie empfinden Sie den Umgang mit Behinderungen in den Medien? Denken Sie, dass das Thema zu stereotyp betrachtet wird?

Menschen mit Behinderungen finden zu wenig Beachtung in den Medien. Sie sind Teil eines Magazinbeitrages oder einer Dokumentation, oft betonen diese Beiträge die Hilfsbedürftigkeit und zu wenig den gesellschaftlichen Beitrag den diesen Menschen leisten. In Filmen für Kinder oder aus Sicht eines Kindes habe ich noch nichts über das Thema Behinderung gesehen. Es gab letztes Jahr einen ganz wunderbaren spanischen Film für Erwachsene “Wer will denn schon normal sein?”, der für sehr viel Aufruhr sorgte. Die Geschichte war sehr am Leben des behinderten Hauptdarstellers orientiert, der mit Down-Syndrom geboren wurde und trotzdem ein Studienabschluss geschafft hat. Das kann man sich zunächst gar nicht wirklich vorstellen, aber es ist genau diese Denkweise, die auch zeigt, wie begrenzt unsere Reflexion und unser Wissen darüber ist.

Wie wollen Sie Kinder für den Umgang mit behinderten Menschen mithilfe Ihres Filmes sensibilisieren? Kann man Kinder auf diesem Weg überhaupt sensibilisieren?

Ich möchte mit meinem Film erreichen, dass Kinder und Erwachsene darüber nachdenken, wie die Integration behinderter Menschen in die Gesellschaft erleichtert werden kann. Wir sollten lernen, das Kind mit Behinderung vielmehr als Kind, mit seinen ganz persönlichen Erlebnissen und Bedürfnissen zu sehen. Darüber hinaus sollen Kinder lernen, dass behinderte Kinder auch Kinder sind, wie sie selbst – nur mit anderen geistigen Kapazitäten und Talenten. Sie sehnen sich nach Freundschaft und Anerkennung und wenn man das verstanden hat, ist das, was uns unterscheidet nicht mehr so wichtig.

Was möchten Sie Kindern durch Ihre Arbeit als Drehbuchautorin mit auf den Weg geben?

Ich würde mir wünschen, dass Kinder sich vielleicht später an meinen Film erinnern und wissen, dass sie keine Angst und keine Berührungsängste haben müssen, wenn sie beispielsweise einem Menschen mit Down-Syndrom gegenüberstehen. Dieses Denken können sie dann vielleicht auch auf andere Menschen übertragen. Im besten Fall erreiche ich mit meinem Film, dass Menschen auch ein zweites oder drittes Mal hinschauen und nicht gleich ein Urteil über einen Menschen fällen, der anders ist als sie selbst.


medienbewusst.de bedankt sich bei Claudia Boysen für das Interview und wünscht weiterhin viel Erfolg.

Mona Bader