Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Eine Frau kommt zur Tür herein, auf dem Tisch liegt ein bis auf die Unterhose und Tennissocken entkleideter Mann. Auf seinem Oberkörper befindet sich eine Portion Spaghetti-Bolognese. Er fordert die Frau auf Platz zu nehmen und ihr Lieblingsgericht zu verzehren, er sei ja schließlich der Teller. Wenn Ihnen das den Zugang zu erotischen Fantasien legt, seien Sie sich bewusst, wie allgegenwärtig dieses Szenario im deutschen Nachmittagsprogramm vorkommt.
Sollten Sie nun denken, dass hier eine Einleitung zu einem Softporno inszeniert wird, liegen sie falsch. Es handelt sich um einen Ausschnitt der Doku-Soap „Mitten im Leben“(21.04.2010), täglich zu sehen auf RTL von 14 Uhr- 15 Uhr. Alltag im Nachmittagsprogramm privater Fernsehsender. Ob „Verdachtsfälle“, „Familien im Brennpunkt“ (RTL), oder „We are family“ (Pro Sieben), überall sieht man dem Ende der deutschen Fernsehkultur entgegen. Es handelt sich um Doku-Soaps, die sich immer mehr zuspitzen und den Grad der Erregung der Nachmittagszapper auf das höchste strapazieren.
Ein Clou der Fernsehbranche: Neudeutsch geskriptete Texte – sogenannte „Scripted Reality“ – werden verpackt als Dokumentation bei der Familien in ihrem Alltag angeblich beobachtet werden. Ein Kamerateam, welches immer vor Ort ist, dokumentiert das Geschehen hautnah, sodass man einen täuschend echten Eindruck von den Darstellern und ihren Lebenssituationen gewinnt. Das die Scripted Reality-Dokumentationen frei erfunden und die Schauspieler gecastet sind, erscheint erst im Abspann, in einer kurzen Randnotiz.
Wo der Mehrwert dieser „Reality“-Doku Soaps liegt, ist schwer herauszufiltern. Fakt ist, sie bringen Quote und unterhalten den Rezipienten. RTL-Sprecherin Anke Eickmeyer sagt dazu: „Nach unseren Erkenntnissen interessiert die Zuschauer nicht, ob es sich um Real-Doku-Soaps oder um geskriptete Dokusoaps mit Laiendarstellern handelt. Sie wollen interessante Geschichten sehen, die Machart ist nicht entscheidend.”
Täuschend echt, geht es inhaltlich vor allem um die Themen Arbeitslosigkeit, Armut und Abstieg. Eine nie enden wollende Spirale des Negativismus, die keine Möglichkeit ungenutzt lässt, auch Randgruppen unserer Gesellschaft zu persiflieren. Alexander Kissler (Journalist und Autor) meint, dass: „die Basis der allermeisten geskripteten Reality-Formate sei nichts anderes, als ein dumpfes Vorurteil. Jemand der arm ist, sofort auch ungepflegt, perspektivlos, derb und brutal im Umgang ist, sowie jeder der Hartz IV Empfänger automatisch dumm ist.“. Vorurteile die Quote bringen und im modernen Bauerntheater keine Rücksicht auf den Rezipienten nehmen.
Da stellt sich automatisch auch die Frage nach der Moral der Zuschauer. Was vor einem Jahr mit den ersten Reality-Dokus begann, bringt die nötige Quote um immer abgedroschenere und obszönere Geschichten ans Tageslicht zu bringen. Norbert Schneider (Direktor a.D. der Landesanstalt für Medien in NRW) sieht den Grund dafür in dem Hang zu Auf- und Abwärtsvergleichen der Rezipienten: „Entweder man schaut nach Personen, zu denen man aufsieht, oder zu Personen, von denen man sich sehr unterscheiden möchte. Entweder kann ich etwas lernen, oder ich könnte sehen wie gut ich eigentlich bin, weil die so schlecht sind.“
Also Ethik und Moral aufpolieren am Elend anderer Menschen? Fakt ist, dass die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit bei den privaten Fernsehanbietern immer mehr verschwimmt. Zu der Frage, ob der Realitätsbegriff bei jenen Sendern noch einen Wert habe, sagt Alexander Kissler: „ Auf lange Sicht sollten auch die Macher von solchen Reality-Dokus ein Interesse daran haben, dass der Realitätsbegriff nicht ganz zu Tode geritten wird, denn auch bei Privatfernsehanbietern werden nach wie vor Nachrichten geboten und Informationen verkauft.“ Demzufolge sollten auch private Fernsehsender die Grenze zwischen Fiktion und Realität nicht weiter verwischen um die journalistische Glaubwürdigkeit ihrer anderen Formate nicht zu gefährden.
Bis dahin scheint es aber noch ein langer Weg bei dem auch das Bewusstsein der Fernsehzuschauer einsetzen muss, dass die besten Stories eben doch das Leben schreibt. Eine Einstellung, die bei den Machern der geskripteten Formate keine Rolle spielt. Echte Geschichten kosten eben Zeit und Geld. Beides scheinen die privaten Sender nicht zu haben.
Denny Neidhart
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